Wirkten das zuvor bereiste Polen und besonders Litauen überwiegend lieblich und sanft, so erfahren und erleben Bazou und Chianga, Wim und die CamperDogs-Reisereporterin Eva-Maria Grimbergen auf ihrer anschließenden Kreuz-und-Quer-Tour durch Lettland und Estland den baltischen Sommer sehr vielfältig und treffen auch auf paradiesische Zustände: Verwunschene Wälder und blumengeschmückte Städtchen, Lagerfeuer an wilden Küsten und auf einsamen Landzungen, prachtvolle Städte, Inselhopping, Sommerwein und Sommerendfeuer, grüne Elefanten, goldene Kringel, Farbe überall, und sogar eine Schlange spielt mit – Paradies eben. Einmal Adam und Eva sein … aber mit Hunden!
Die sich aus dem Fell geschüttelten Tropfen vom Morgenbad im litauischen See sind noch kaum im Gras verdunstet, schon starten wir mit großer Spannung zur nächsten Etappe unserer Reise. Polen und Litauen liegen hinter uns und Wim gibt Gas. Wenige Minuten später erreichen wir das Schild »Latvija« und passieren unspektakulär die Grenze, ohne eine Menschenseele zu sehen. Wir sind in Lettland.
Die Landschaft lässt keinen nennenswerten Unterschied zu Litauen erkennen, aber die Bebauung ist sehr viel anders und der Straßenzustand wirklich bemerkenswert. Auf babypopoglattem Asphalt gleiten wir dahin, vorbei an riesigen Ackerflächen, Gestüten und Gehöften mit Nutzgärten und Störchen. Einiges wirkt sehr neu, anderes eher bedenklich. Auffällig sind die zahlreichen Türme und kasernenmäßigen Bauten, vermutlich aus Sowjetzeiten, die verlassen vor sich hin zerfallen oder irgendwie doch noch von der Bevölkerung genutzt werden. Insgesamt haben wir den Eindruck, durch militärisches Gebiet zu fahren, schnurgerade Straße, flache einsehbare Flächen, Wälder gestutzt, Masten, Ausgucke und Wachtürme, ganz eigentümlich. Wären Zäune sichtbar, das Bild wäre perfekt. Irgendwann liegen schäbige Wohnsilos an der Straße, Putz bröckelt, alles aschfahl, Wäsche flattert, Kinder spielen in dieser Trostlosigkeit, ältere Paare gehen gebückt.
Erwartungen
Unser Ziel, ein Parkplatz an den Auen des Flusses Venta in Kuldiga, ist schnell erreicht. Das Abendrot passt sich den glutroten Beeren der Ebereschen an und verwöhnt uns mit traumhaften Ausblicken an unserem ersten Abend in Lettland. Leider sorgt eine Gruppe Rüpel in der Nacht mit ihren aufheulenden Motoren für erhebliche Unruhe. Nachdem uns auch noch unter wüstem Gegröle ein alter Bilderrahmen unter die Wischerblätter geklemmt wird, kommt uns die Lust auf Bleiben abhanden. So wird die 164 m lange Backsteinbrücke über die Venta, die mit ihren Feldstein-
Bögen nach Errichtung im Jahr 1874 als eine der modernsten Brücken in Europa galt, da sie die Fahrt zweier entgegenkommender Kutschen ermöglichte, nur kurz fotografiert. Gleiches Schicksal ereilt die weitere Attraktion der Stadt: Ventas Rumba, Europas breiteste Stromschnellen, über 100 m breit und bis 2 m hoch. Im Herbst und Frühling werden hier wohl täglich an die 100 flussaufwärts springende Lachse im Flug gefangen. Darauf werden wir nicht warten, wir ziehen weiter, und der Kuldiga nachgesagte museale Flair bleibt uns verborgen. Unterwegs lässt die ruckelfreie Fahrt über tadellosen Asphalt viel Raum über Lettland und seine Menschen nachzudenken, während sich der Himmel immer mehr verdunkelt, irgendwann ein Gewitter niederprasselt und die 26° auf 14° runterkurbelt. Lettland, Lettland, Du wirst Dich anstrengen müssen.
Von Blüten verzaubert
Als wären wir erhört worden, laufen wir im Hafenstädtchen Ventspils an der Ostsee ein. Aber welch ein Einlauf ist das denn jetzt? Wahnsinn! Extrem sauber, farbenfroh und außergewöhnlich empfängt uns diese Stadt. Über Alleen mit uralten Bäumen im akkuraten Formschnitt und überbordender Blütenpracht finden wir den Parkplatz hinter der Ostseedüne an der breiten Hafeneinfahrt, Seeluft mit einer Brise »Weite-Welt« inklusive. Am Strand ist Hundeverbot, aber entlang der Hafenmauer lässt sich gut eine Runde drehen, bevor wir bei sonnigem Wetter zur Besichtigung mit Rädern und Anhängern starten, immer dem Kai folgend, an uralten Fischerhäuschen und noblen Residenzen vorbei, lauschigen Plätzen mit Wasserspielen und Skulpturen. Vieles ist instand gesetzt, an vielem wird gearbeitet. Die über Jahrhunderte hinweg sehr unbeständige, leidvolle Situation im Land, das Streben nach Unabhängigkeit, das die Menschen über Generationen hinweg beutelte, hat natürlich Spuren hinterlassen. Inzwischen konnte aber der zweifelhafte Charme der ehemaligen Sowjetherrschaft erfolgreich vertrieben werden und das alte Hansestädtchen scheint in üppigster Blütenpracht zu ertrinken, war es doch immer schon durch Ölexporte richtig wohlhabend, was sich auch heute noch am Preisgefüge, das sogar über dem von Riga liegen soll, zeigt.
Meer und Freiheit in Sicht
Sehr beeindruckt verlassen wir das schmucke Städtchen und steuern direkt die Ostsee an, Zeit für eine Badepause bei herrlichem Sommerwetter und die Gelegenheit für die Hunde, mal richtig »die Sau raus zu lassen« am menschenleeren Strand, der sich hinter einem Wachturm und ein paar verfallenen Militärbehausungen weit ausbreitet und für anfallsartiges Rennen und Toben zwischen Sandkörnern, von denen jedes der potenzielle Endgegner sein könnte, herhalten muss.
Unser nächstes Quartier hier im vielfach besetzten und abgeriegelten Land der Kuren, einem baltischen Volk, dessen Name so viel bedeutet wie »schnell auf See«, erreichen wir über Schotter quer durchs Unterholz. Elche sollen hier leben, Luchse und Wölfe auch. Leider lässt sich keiner blicken, obwohl wir mitten durch dichten Wald schleichen. Hinter einem der versteckt liegenden Holzhäuschen führt uns unser Weg auf eine Lichtung mit ein paar Hüttchen und Feuerstellen, einem Teich mit Seerosen und hohen Rohrkolben. Einige genussvolle Tage am Waldrand in dieser himmlischen Abgeschiedenheit schließen sich an. Wir fühlen uns vogelfrei, so frei, dass die Hunde auch mal leinenlos auf der großen Wiese toben oder am Rad über den geschwungenen Waldweg die 500 m bis zum Strand sausen können. Ohne Hundeanhänger losziehen – das gab es bisher nie! Niemals waren wir auf einem Platz, von dem aus leinenlos losgetrabt werden konnte. Luxus pur! Und die Hunde staunen Bauklötze, sie gucken immer wieder uns an, dann zurück zum Womo, ungläubig, als ob sie fragen wollten: »Ey, was‘n mit Euch los, habt Ihr nicht was vergessen, ist das Euer Ernst, echt jetzt, mit ohne Leinchen los?!?« Und ja. Denn rechts keine Menschenseele, links keine Menschenseele, nicht mal ein Tanker am Horizont. Und ein Strand, der so fest ist, dass wir an der Brandung entlang radeln können. Frischer Wind, gesunde Luft, keine Aerosole, Freiraum und Freiheit pur. Adam und Eva – allerdings in Klamotten mit Hunden.
Der Weg zur Traube
Als wir nach Abreise aus diesem Paradies am Kap Kolka einen Stopp einlegen, ist der Gegensatz schon krass. Auf dem Parkplatz knubbeln sich Autos, an den Souvenir- und Infoständen Besucher. Blitzartig haben wir die Faxen dicke, zügig wird das Kap fotografiert und nix wie weg. Unsere Route geht Richtung Riga mit einem Abstecher ins Inland über desolate Straßen. Wim stöhnt, Concördchen ächzt, die Hunde und ich schweigen. Dennoch erreichen wir irgendwie unseren Nachtplatz für heute im Örtchen Sabile, und damit ein »kleines Wunder«, zum Aufsaugen schön.
Riga – Vergangenheit und Gegenwart
Und das Staunen reißt nicht ab, auch als wir über die sich weit spannende Brücke über die Daugava in den Genuss der fantastischen Skyline von Riga kommen und, nach einer Nacht auf der Flussinsel in der fast unwegsam chilligen »Riga Wake« Oase unter dem riesigen Radarschirm der Fernsehanstalt von Lettland, tagsdarauf im zentralen Jachthafen mit Blick auf altehrwürdige Fassaden einlaufen. Angesichts des drohenden Regentiefs ziehen wir Asphalt einem schlammigen Waldboden vor. Himmelblaue Womo-Polster und 8 dicke eingesaute Pfoten lassen sich gelegentlich weniger gut kombinieren. Außerdem stehen wir zentraler. In der nächsten Regenpause erreichen wir mit Rad und Hunden im Hänger um die Ecke die Promenade und starten zur begeisternden Brücken-Tour. Viele Menschen sind unterwegs in warmer Nachmittagssonne, eine schöne Stimmung herrscht. Man nickt uns offen und freundlich zu, gute Voraussetzungen für den morgigen Besuch der sehr interessanten Stadt Riga, in der man Tage verbringen könnte.
Mit bleibenden Eindrücken von Riga geht unsere Tour weiter gen Norden durch graue Vorstadt, Wohnblocks reihen sich aneinander, immer wieder tauchen mächtige marode Altertümchen auf. Für die Sanierung dieser historischen Gebäudekomplexe wird die EU etliche Sparschweine schlachten müssen. Wir fragen uns, wie es den Bewohnern geht, wenn es sie durch die Altstadt von Riga führt. Ein extrem krasser Unterschied – ähnlich Schwarz-Weiß-TV und Farbfernsehen, nur noch schlimmer.
Schnell vertreiben kleinere Örtchen, lichte Wälder, Felder und Störche bedrückende Gedanken, und wir nähern uns der Küste. Die schmalen Straßen sind gesäumt von unzähligen Obstbäumen, an deren tief hängenden Ästen rote Äpfelchen baumeln. An einem Ortsende erreichen wir eine Campingwiese direkt am Meer zur Alleinnutzung mit unverstellter Aussicht, Strandzugang, Feuerstelle. Bazou und Chianga sind mit uns einer Meinung: grandios, die Brandung, die Farben, die kugeligen Steine im Sand, das Blau. Nach zwei sehr erholsamen Verschnauftagen und Radtouren mit viel Freilauf für die Hündchen in der ursprünglichen Naturlandschaft der steinigen livländischen Küste mit ihren Sandsteinfreilegungen, Dünen und Strandwiesen, die Lebensraum für seltene, geschützte Pflanzen- und Tierarten sind, tun wir es den in Scharen fliegenden Wildgänsen gleich und ziehen weiter, nur nicht in südlicher, sondern nördlicher Richtung.
Kribbeln im Bauch
Und das bedeutet Estland, das wir ohne jede Kontrolle an der Grenze auf schnurgerader, waldreicher Strecke erreichen. Kräftig rosa leuchtet die Heide unter den Tausenden von weißstämmigen Birken und rotbraunen Stämmen der Kiefern und Föhren, Farbspiele, die nie langweilig werden. Alles verströmt totale Ruhe schon auf den ersten Metern der »Romantiline rannatee«, einer Route, die nah der Küste verläuft und uns zauberhafte erste Eindrücke des für uns neuen Landes beschert. Ziemlich aufgeregt, gespannt mit Kribbeln im Bauch, freuen wir uns sehr darauf, dieses nordische Neuland zu erleben, werden aber zunächst ausgebremst durch etliche Gestalten in gelben Warnwesten. Polizei? Breitbeinig lotst man uns auf eine Parkfläche und bittet sehr höflich um Vorlage der üblichen Papiere, erkundigt sich ausgesprochen freundlich nach unserer Route, schaut sich im Inneren des Womos nach Migranten um und lässt uns fröhlich winkend mit einem tadellosen »guten Tag und auf Wiedersehen« weiterreisen. Estland … Du gewinnst!
Mittelalterliches Pärnu – Estlands Sommerferienziel
Auch das folgende Ankern im Jachthafen Pärnu ist ein absoluter Gewinn. Hier in der größten Stadt des Landes, der man »die beste Sonne Estlands« nachsagt und die für Jung und Alt alles an Ferienvergnügen bietet, stehen wir wieder zentral und genießen ein leckeres Mahl im angrenzenden Hafenrestaurant: Kartoffel mit gebackenem Hering und Silberzwiebelchen mit Speck. Spektakulär geht die Sonne unter hinter den schaukelnden Booten im kurz danach in die Ostsee mündenden Pärnu Jogi (Jogi = Fluss). Überhaupt ist das eine so spezielle Sprache. Hieß »Straße« in Lettland noch »iela«, so sagt man hier »tee«. Man wird vorsichtig sein müssen, wenn man Kamillentee bestellt. Auf unserer Erkundung per Rad in und um das tolle Pärnu wählen wir dann auch Kakao zu den goldenen, in Öl gebackenen, köstlichen süßen Kringeln.
Grenzerfahrungen
Gestärkt verläuft nun unsere Route ins Landesinnere bis in den Osten zur russischen Grenze. Eine Nacht verbringen wir im Garten eines gepflegten Gästehauses mit an einer Kette patrouillierendem zotteligen Hütehund in Größe eines Ponys, der bei Betreten sofort in unmissverständlicher Weise anschlägt, danach aber brav schweigt, peilen den Peipsi järv, einen riesigen See, achtmal größer als der Bodensee, an und folgen der sogenannten »Zwiebelroute« am Seeufer bis zum geeigneten Nachtplatz an einer Flussmündung, in der Fischerboote schaukeln, romantische Farbtupfer, passend zum Gläschen Wein an fetter lauwarmer Pizza aus der »Heißen Theke« vom Rimi-Supermarkt.
Vorbei an zusammengeschusterten Verkaufsständen, an denen Räucherfisch und natürlich Zwiebeln angeboten werden, zuckeln wir weiter über gut ausgebaute Strecke durch Schneisen in lichten Wäldern ohne Eile und legen am besonders schönen Nordufer des Sees eine Pause ein. Ein paar Schritte über federnden Föhren-Waldboden und ein heller ellenlanger Sandstrand breitet sich aus. Meine Güte, welch eine Weite. Unser Erscheinen am Strand sorgt für sofortige Aufruhr in einer zum Greifen nahen, dennoch unerreichbaren Silberreiherkolonie, auch weil Bazou und Chianga entfesselt mit einem Ganzkörperstrahlen loslegen und sich die Seelen aus dem Leib rennen –
immer wieder pure Lebensfreude, selbst wenn einzelne Reiher das im Augenblick nicht so sehen.
Am südöstlichen Ende Estlands am Grenzfluss Narva, Außengrenze der EU, im Örtchen Vasknarva mit nur 70 hauptsächlich russischen Einwohnern, fällt die imposante russisch-orthodoxe Kirche ins Auge. Danach fällt der Blick von einer großen Fläche, einer Grenzschutzstelle, auf der man sich nachts nicht aufhalten darf, über Unmengen Vögel auf schilfigen Streifen im Fluss hinüber nach Russland. Der Grenzverlauf ist markiert durch orange Bojen, die russische Fahne unübersehbar am anderen Ufer gehisst. Ein älteres Paar angelt. Ich erkundige mich bei der Frau nach ihrem Fang. Sie ist sehr freundlich, versteht sofort, was ich meine, lacht und zeigt mit den Händen, dass sie nur kleine Fische erwischt habe. Und ihr Mann? Da winkt sie ab, und ich sehe den Spaß in ihren Augen nach dem Motto: »Der fängt sowieso nie was Ordentliches!«. Ich liebe diese Momente, in denen man keine gemeinsame Sprache hat, dennoch genau weiß, was und wie der andere etwas meint. Mein »spaciva« freut sie, sie lacht und winkt mir zu.
Und mit einem Foto der letzten Blümchen vor Russland klettern wir wieder in unser Womo und begeben uns auf Nachtlagersuche. Der Parkplatz unterhalb des 1891 begründeten russisch-orthodoxen Nonnenklosters Pühtitsa und der für die Esten heiligen Quelle kommt uns sehr gelegen. Viele Besucher sind unterwegs. Besichtigungen der Innenräume wären nach Termin möglich, wir beschränken uns auf die Außenansichten und den Besuch des angrenzenden Friedhofs. Es ist beeindruckend, wie viele Grabstätten es hier gibt und wie sorgsam diese von etlichen Ordensfrauen gepflegt werden. Ja, es seien alles Schwestern, erklären sie mir auf Russisch. Einige verpassen einem Eisentor einen neuen Anstrich. Ich frage sie, wo denn die Brüder seien, die sollten eher solche Arbeiten erledigen. Die Nonnen lachen schallend und zwinkern sich zu, »die Brüder werden doch nur für schwere Arbeiten gerufen«, ist die Antwort in bestem Deutsch.
Dem Fluss Narva folgend, der kurz darauf in den Finnischen Meerbusen mündet, erreichen wir die gleichnamige Stadt Narva und besuchen im Sonnenschein die Sehenswürdigkeit schlechthin: die beiden mächtigen Festungsanlagen. Auf der Weiterfahrt wird es nach zahlreichen Wohnblöcken mit deutlichen Spuren der sowjetischen Zeit glücklicherweise wieder ländlich, Frauen bieten am Straßenrand ihre Produkte an. Der Fluss läuft zügig dahin, gelegentlich sieht man ein Polizeiboot. An einer unübersehbaren Gedenkstätte, einem Panzer auf einem hohen Steinsockel, stoppen wir kurz. Das einzige Panzer-Monument, das in Estland noch erhalten geblieben ist, erinnert an die Kämpfe des Zweiten Weltkriegs und markiert den Ort, an dem im Juli 1944 die Truppen der Leningrader Front den Fluss überquert haben. Heute ist es – seltsam friedlich – Brauch, dass Hochzeitspaare Blumenschmuck niederlegen.
Am nordöstlichsten Punkt Estlands in Narva-Joesuu schwenken wir links ab und folgen der Küstenlinie nach Westen, vorbei an schicken neuen Häusern, schwülstig-protzigen Hotels, aber auch heruntergekommenen Bauten. Ein Unterschied wird deutlich zum Estland, das wir bisher kennengelernt haben, hier in dieser Region, die Zentrum der russischsprachigen Minderheit Estlands ist.
Bald breiten sich aber wieder Felder aus, verstreut liegen Bauernhöfe, alles wirkt sehr bodenständig, einfach, zufrieden. Hin und wieder säumen alte Bäume die Straße, Alleen, die etwas an Holland erinnern. Dahinter liegen Bilderbuch-Bauerngärten mit geschäftig wuselnden Bauersleuten. Ein fürstliches Landgut, das schon auf der Landstraße »Fotografieren verboten«-Schilder aufgestellt hat, bietet offizielle SP an. Diese können aber leider an diesem Wochenende wegen einer Hochzeitsfeier nicht belegt werden. Ein Blick über bemooste Mauern zeigt, es geht nobel zu, die Gesellschaft wollte wohl im zum Meer liegenden Park des Guts keine Womos rumstehen haben. Irgendwie verständlich, wenn schon, denn schon.
Also geht unsere Suche nach einem Schlafplatz weiter, was problematisch werden könnte, da in Estland heute das Sommerende mit Feuern an der Ostsee entlang gefeiert wird. Gern würden wir das miterleben und verlassen Landsträßchen, nehmen Feld- und Waldgässchen zu einem in Google Maps angezeigten Lokal am Meer. Bei solchen Exkursionen werden schnell mal paar Kilometer ellenlang, und man ist froh über jedes Vehikel, das einem nicht entgegenkommt. Von den sanften Hügeln hinab zum Strand sehen wir zwei Womos auf dem Parkplatz. Aha, das stimmt zuversichtlich, die Nachfrage im Lokal nicht mehr. Essen dürfen wir, übernachten nicht. Na prima, diese Option gefällt doch. Also erneut Abmarsch.
Nun wird‘s aber doch enger, so allmählich. Die Sonne lacht, 24°, da will man auch mal ankommen. Im größeren Ort Kunda liegen zwar am Meer große Fabrikanlagen, aber zur anderen Seite raus gibt es ein Strandbad und viele Wege und Plätzchen. Nehmen wir das also ins Visier. Die Stimmung im Wageninneren schwankt leicht, man kann sie aber noch als halbwegs gelassen bezeichnen. Es darf aber auch nix mehr »dazwischen kommen«. So stabil wie das sonnige Wetter im Moment ist sie nicht, eher leicht irritierbar. Wir schlagen uns am Strand nach links ins Gebüsch und kommen über ein schmales Asphaltbändchen auf tragfähigem Wiesengrund mit eigenem Strandzugang zum Stehen. Mannomann, geschafft! Jetzt aber zackig, Stühle raus, eine Fotorunde und einen verfrühten Absacker in der warmen Spätnachmittagssonne.
Vom Strand her kommt ein Mann auf uns zu. Erst schwant uns nichts Gutes. Aber nein, er ist Deutscher, lebt und arbeitet seit 15 Jahren hier, erzählt lange mit uns und freut sich, noch mal ein deutsches Womo zu sehen. In diesem Jahr seien es wenige, was so schade wäre, die Jahre vorher habe der Tourismus mit Womos zugenommen, aber jetzt bremse Corona eben. Unterdessen dämmert es, und die gesunde Seeluft riecht plötzlich nach Rauch. Ja, er sei extra mit seiner Frau, die Estin ist, hierher gekommen, um das Sommerendfeuer mitzuerleben. Und dann sehen wir auch schon an den Strandbuden ein gewaltig loderndes Feuer, Funken sprühen in den Himmel, Menschen stehen drum herum, man prostet sich zu, Musik wird gespielt, man singt. Einige nehmen noch ein Bad im Meer. Und dann ist Ende, auch für uns, unser Tag der »Grenzerfahrungen« endet friedlich, ach, man ist doch immer glücklich, wenn‘s gut ausgeht – auch wenn mal Menschen nicht zurück winken, Panzer nötig waren und/oder Passendes auf Anhieb nicht zu finden ist. Grenzen wollen manchmal ausgetestet werden.
Hoch im Norden: Lahemaa – »Land der Buchten«
Die erholsame Nacht schafft Raum für neue weiterführende Ideen. Und die Wahl fällt auf den nördlichsten Zipfel Estlands, auf die Landzunge Purekkari im Nationalpark Lahemaa, wild, unberührt, einsam, was sich allerdings zunächst nicht bestätigt, denn stückweise sind alle Straßenränder zugeparkt, die Waldwege belagert. Auto an Auto, Mensch an Mensch. Wir erkennen kleine und große Gestalten mit Eimern und Körben bewaffnet, die hoch konzentriert sammelnd durchs Moos schleichen, gelegentlich blitzt ein Messer auf, mit dem sie hier und da in gebückter Haltung zustechen. Sicher die Jahreshauptversammlung der Pilzfreunde Estland e.V.. Wir spotten, aber so ein wenig wäre ich jetzt gerne wie sie, ich habe nämlich im ganzen Leben noch keine Pilze gesammelt. Und es muss schön sein, diese Suche und Jagd nach dem Begehrten, denn die Leute sind mit fröhlichen Gesichtern unterwegs.
Mit jedem Kilometer wird die Landschaft eigenwillig schöner und schöner. Ja, man könnte denken: »Ach, Wald ist Wald, Wald ist eben voller Bäume.«. Aber weit gefehlt! Fangen wir mal unten an: Fantastisch wirkt der Waldboden mit seinen verschiedenen Moosen, weich und sanft gehügelt, man sieht die Weichheit förmlich, dann das Licht, das sich unterschiedlich ins Geäst legt, das Moos leuchten lässt und auf flache Waldbeerensträucher fällt, die verschiedenen Rinden und Farben der Stämme, immer mal die hellen Birken zwischen Föhren und Kiefern, alles in allem märchenhaft. Es ist ein Genuss auf jedem Meter. Auch die Häuschen dazwischen natürlich, die einen mit ihren blumengeschmückten Gärten und knalligen Farben und ihrer Hutzeligkeit einfangen. Und dann wieder verschandeln im folgenden dichten Küstenwald marode, vor sich hin faulende Klötze aus Militärzeiten die Natur, Anblicke zum Gruseln. Irgendwo öffnet sich die grüne Hölle, gibt den Blick aufs blaue Meer frei, und wir kommen auf einem herrlichen Fleckchen an. Eine schmale Landzunge aus Findlingen und Steinen schiebt sich 1,5 km lang und flach in die Ostsee. Es wirkt alles wild in diesem überdimensionalen Steingarten, einfach wunderbar, eine meisterliche Natur, in der die Hunde und wir ungestört und ausgiebig herum spazieren können. Der Tag wird gekrönt vom Untergang der Sonne im kristallenen Licht des Nordens und einer Lichterkette weit hinten am Horizont. Es ist Finnland, das herüber leuchtet. Unfassbar! Sonntag eben.
Die faszinierende Stadt der wohlhabenden Kaufleute
Neue Woche – neues Glück. Früh verlassen wir diese paradiesische Ereignislosigkeit, in der sich eine Schönheit an die andere reiht und starten durch nach Tallinn. Bei mittlerweile stahlblauem Himmel erreichen wir den Jachthafen im Hafenviertel Pirita und den für Womos vorgesehenen Parkstreifen. Auf diesem Gelände fanden 1980 bei den vom Westen boykottierten olympischen Spielen die Segelwettbewerbe statt. Die riesige Schale, in dem das olympische Feuer loderte, strahlt im Sonnenschein und könnte sicher von tollen sportlichen Leistungen der Segler unter dem Wind erzählen. Wir wollen keine Zeit verlieren und zum Sightseeing aufbrechen, die Vorfreude auf Tallinn ist riesengroß, und wird nicht enttäuscht. Tallinn muss man einfach erlebt haben.
Frau Anna Hermann aus Haapsalu
Aber das trifft eigentlich auf vieles in Estland zu. Denn auch das zauberhafte Städtchen Haapsalu, das wir auf unserer Weiterreise besuchen, lohnt sich in jeder Hinsicht, selbst wenn sich die Verkäuferin im Supermarkt keine Mühe gibt, mich verstehen zu wollen und mich lustlos abfertigt. Leider zieht sich so eine zurückhaltende Verschlossenheit, mal positiv ausgedrückt, ein klein wenig durch unsere Reisetage, und das ist einfach schade, denn unsere Reisefreude lebt sehr vom Austausch miteinander, macht erst das Reisen, das bewegt. Na ja, evtl. erwischen wir einfach nur mal schlechte Laune beim Gegenüber. Allerdings wächst auch vor den geschichtlichen Hintergründen nach und nach unser Verständnis für die Mentalität der Menschen hier im Baltikum, für dieses deutlich zweifelnde Misstrauen und die Vorsicht angesichts der extrem beeinflussenden Widrigkeiten in diesen ehemals besetzten Regionen und Sperrzonen.
Wie aus dem Nichts steht plötzlich an unserem Womo an den Ostseewiesen, auf denen die Hunde gerade freudig ihre Runden drehen, ein alter Mann mit wehendem weißen Haar und Bart. Er wohne ganz am Ortsende in einem alten Haus, komme sich hier sein Trinkwasser holen, da bis zu seinem Haus keine Leitung liege. Strom habe er aber. Und er plaudert in recht gutem Deutsch drauf los. Seine Mutter wäre eine geborene Hoffmann gewesen, seine Oma hätte Anna Hermann geheißen. Hier hätten 14 deutsche Familien gelebt, es sei alles irgendwie gemischt worden, lacht er, halb Schweden, halb Deutsch, Hauptsache nicht Russisch. Das hätte man Jahrzehnte nicht sagen dürfen, so viele seien nach irgendwelchen unpassenden Äußerungen nach Sibirien verschleppt worden oder hätten sich glücklicherweise in alle möglichen Länder der Welt retten können. Hier sei ein großer Militärstützpunkt gewesen. Sein Vater sei gefallen im Krieg. Dann schiebt er wieder freundlich winkend ab mit seiner verbeulten Fünf-Liter-Plastikflasche.
Reif für die Insel
Wir peilen den Fähranleger in Virtsu an und werden verschifft. Nach einer Nacht im beschaulichen Winzlingshafen Koguva hinter der Fischerhütte auf dem Inselchen Muhu und dem Besuch des wirklich interessanten Freilichtmuseums erreichen wir über den schmalen Damm die Insel Saaremaa und den auf einem Landzipfel liegenden SP. Bei starkem Wind vergeht den Hunden die Lust am aushäusigen Toben, Wim seine am Angeln, obwohl er mit schwerem Gerät losgezogen ist. Zu den Worten »wieder nix« räume ich die Bratpfanne und er sein Anglermesser weg. Eine Dose Erbensuppe wird lustlos aufgerissen, nicht der Oberknaller, die bald aufziehenden mehrfachen Regenbögen vorm dunkelgrauen Himmel aber schon. Weitergezogen wird zum Inselhauptstädtchen Kuressaare mit der mächtigen Bischofsburg und den um den Wassergraben herum liegenden märchenhaft schönen Häuschen und nach Besichtigung wieder in die Einsamkeit zum Leuchtturm Sõrve tuletorn am südlichsten Zipfel Estlands. Große Vogelschwärme, die die Bucht bevölkern, steigen immer wieder auf. Man spürt, hier ist behüteter Lebensraum, Stille herrscht, und über Nacht sind wir geduldet.
Immer an der Küste entlang mit freiem Blick auf die Ostsee führt uns unsere weitere Reise an einem steinigen Strandstück vorbei. Hier toben sich gerne die Hochstapler aus. Sie türmen Steine und Steinchen zu sogenannten »Steinmännchen« auf, die Sturm und Wind trotzen. Einen kurzen Besuch statten wir ihnen ab, sprechen Mut zu, beinhart auszuhalten, und Bazou gibt vielfach seinen Segen dazu.
Außer herum staksenden Wasservögeln und grasenden Rindviechern begegnen wir niemandem auf unserem weiteren Weg durch die moorige Landschaft, einem Gebilde aus vom Wind zerzausten Wacholderbüschen und unzähligen großen und kleinen Findlingen. Es geht mit 10 km/h über Schotter, und ganz langsam erreichen wir das Ziel unserer Sehnsucht: Wildnis. Unmittelbar an der Ostsee richten wir uns im holprigen, abschüssigen Gelände aus Wiese und Schotter mit Grill für die Nacht ein, um am nächsten Tag ein riesiges Waldgebiet, das in Zeiten der sowjetrussischen Herrschaft als Truppenübungsgelände der Roten Armee genutzt wurde, anzufahren. »Waldbaden« ist angesagt inmitten märchenhaften Moosgebilden und Beerensträuchern mit hin und wieder aufblitzendem Blau der Waldbeeren, Pilzen und Zapfen und Krabbeltieren. Also: auf die Plätze, fertig, Womo-Tür auf, leinenlos los – der absolute Luxus hier im Gelände, in dem sich die Natur alles wieder zurückholt und Bunker, Hangare, Schächte aller Art überwuchert. Spuren werden dennoch bleiben, selbst wenn Augen sie nicht mehr entdecken können.
Schlangenangriff
Auf der Weiterfahrt beziehen wir nach einem kurzen Besuch der 20 m hohen Klippen an der Landspitze Panga Pank (klingt wie ein balinesisches Fischgericht) ein abgeschiedenes Plätzchen unmittelbar in einer Bucht, quasi unseren Seevogelobservierungsposten zwischen startenden und landenden Schwänen und auf wellenumspülten Findlingen herum hängenden Kormoranen, nichts ahnend, dass auch anderes Getier unterwegs ist, nämlich eine Schlange am Wegesrand, die hemmungslos ihre Zähne in Chiangas Lefze schlägt und ihr Gift verströmt. Eine auf schnellstem Weg gesuchte und glücklicherweise gefundene tierärztliche Notversorgung lässt alles gut ausgehen.
Um eine Erfahrung reicher, worauf wir getrost hätten verzichten können, ziehen wir weiter. Das Durchstreifen einer Burgruine am Meer, deren untere Gewölbe sehr gut erhalten bzw. instand gesetzt und sehenswert sind, vertreibt trübe Schlangen-Gedanken und lässt uns einigermaßen wiederhergestellt im Hafen Orissaare einlaufen. Hier herrscht eine freundlich gelassene Stimmung. Das Kleinstädtchen entpuppt sich wieder mal als Schnuckelhausen, verströmt Gemütlichkeit. Überall wird gewerkelt, man stapelt Kaminholz, dekoriert liebevoll Gärten und Häuser, die leuchtend bunt bemalt sind und wie Farbkleckse wirken. Und besonders herzerwärmend sind die buntbestrumpften Kinder, die sich Äpfel schmecken lassen, wie einem Bilderbuch aus Bullerbü entsprungen. Diese Eindrücke, ein Bad im Meer und ein leckeres Essen im kleinen Hafenrestaurant bilden den wunderbaren Abschluss unserer Umrundung der Insel Saaremaa.
Richtung Heimat
Die Rückreise steht an. Eine Nacht verbringen wir auf einem alten Mühlenanwesen und passieren am nächsten Tag über schmale Piste zwischen dem einen und anderen Gebüsch das Grenzschild zu Lettland mit Ziel CP Apalkalns in Raiskums am See. Bei blauem Himmel leuchtet uns diese wundervolle, beispiellose Oase schon entgegen, und wir landen erneut in einem Paradies. Unmengen Hortensien stehen in voller Blüte in der perfekten Anlage, die einem Golfplatz gleicht. Die sehr freundliche Betreiber-Familie, die auch auf dem Platz wohnt, regelt und richtet alles. Du lieber Himmel, ich als CP-Verschmäherin muss hier einiges revidieren. Wunderschön, einfach sagenhaft schön! Eine große, hoch eingezäunte Hundewiese mit etlichen Hundespielplatz-Geräten und Bänken gibts noch oben drauf und zigfach Möglichkeiten, Felder und urige Wälder rund um den See zu erwandern oder die Räder für tolle Erkundungen zu satteln. Und wer dann Durst verspürt, dem hilft die kleine traditionsreiche Dorfbrauerei weiter. Das köstliche Bier aus handlichen Liter-Flaschen kann man sich einfach nicht entgehen lassen und wird auch nach unserer anstehenden Rückreise durch Litauen und Polen uns und der Familie in heimischen Gefilden schmecken.
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