Diesen Titel stellen wir unserer Winterreise durch das uns noch unbekannte Land voran. Im Land des Fado, da, wo die Menschen die »Saudade« leben, dieses Gefühl von Weltschmerz, diese Mischung aus Melancholie, Schwermut und Sehnsucht, dort möchten wir uns einfühlen, vielleicht einen Fuß in die Tür setzen, mal reinspüren, fühlen, etwas mitnehmen vom Schicksal, das sich auf Portugiesisch »Fado« nennt.
Während an einem Tag Anfang Januar zu Hause Schnee fällt, fällt unser Blick jetzt auf den fast mystisch im Morgendunst dahin flutenden Douro und das malerisch-charismatische Porto und seine prachtvollen Brücken. Absolut erlebenswert ist es, aber wir verlassen es heute nach ausgiebigen Besichtigungen und einem kurzen Morgengassigang mit dem verschlafen aus seinem nicht vorhandenen Schlafanzug guckenden Bazou. Porto hat uns in seinen Bann gezogen und schafft es ganz sicher auf unsere Liste der »Auf-alle-Fälle-nochmal«-Ziele.
Lass uns doch mal über einen Markt schlendern
Wir peilen das Städtchen Espinho an. Traditionell findet hier seit 1894 der große Mercado emanal – Feira de Espinho statt. Eine schöne Abwechslung, sich hinein zu mischen ins geschäftige Marktgewusel, sich zwischen Fetzen der schwierigen portugiesischen Sprache und Tausenderlei Kleinigkeiten und Gerüchen treiben zu lassen, Kostproben hier und da zu nehmen, sich zu drängeln und zu quetschen und nicht zu wissen, wo man vor lauter Angeboten zuerst hinschauen soll.
Erholung garantiert am Atlantikstrand
Danach ist eine Verschnaufpause fällig. Die schnell erreichte passende Stelle am Meeresstrand am Atlantik ist menschenleer, kommt wie gerufen zum Sausen für Bazou und Genießen für uns. Er hat es sich verdient. Die Landschaft ist einfach toll, weit und fast wie unwirklich in diesem Licht, mit wundervollen Farben, ein himmlisches Hellblau und dazu die donnernden, sich hoch auftürmenden Wellen: Kontrastprogramm mit Hund.
Liebe auf den zweiten Blick
Nächste Anlaufstelle ist die an einer Lagune liegende, sehr traditionelle Stadt Aveiro. Man nennt sie auch »das Venedig Portugals« wegen der drei Kanäle, die sie durchziehen. Es wird dämmrig, als wir den öden SP unter einer Schnellstraßenbrücke erreichen. Romantischer gehts kaum, Aveiro, Du kannst nur verlieren. Schade, aber ausreichend für eine Nacht, wir sind ohnehin platt von den ganzen Eindrücken des Tages. Ein kurzer Rundgang ist aber noch drin, auf dem wir eine Brücke zu einem Kanal entdecken, auf dem die farbenfrohen Barcos Moliceiros dümpeln, Boote, mit denen man früher in der Lagune fischte, Seetang und Salz erntete. Aus dem eigentlich nur kurzen Gassi-Gang wird ein längerer Bummel, zu schön leuchten die Farben der Boote im Wettstreit mit der noch reichlich vorhandenen Weihnachtsbeleuchtung, die Lichter spiegeln sich im Wasser, tanzen darauf herum, und es lockt, das zu entdecken, was sich hinter den nächsten Häuserecken verbirgt. Der ereignisreiche Tag findet seinen Ausklang in einem gigantischen Feuerwerk, von dem wir weit nach Mitternacht im ersten Tiefschlaf voll »erwischt« werden und das mir den Besuch von Bazou unter meiner Bettdecke beschert. Das Bübchen hat Angst, kommt nach hinten, beschwert sich bei mir, fällt unter meiner Decke sofort in den Schlaf auf meinem Bein, das daraufhin abgequetscht eher einschläft als mein restlicher Körper.
Fado und Saudade, diese zwei Gesellen
Sinn und Unsinn von Sitten und Gebräuchen in Reiseländern zu spiegeln, zu beleuchten und zu hinterfragen, führt meistens weiter, öffnet neue Welten und ganz andere Blickwinkel und Denkweisen. Man kann nur gewinnen, man nimmt etwas mit, egal, ob man es erhofft, gesucht und bestätigt gefunden hat oder es in einem auf Unverständnis oder Ablehnung stößt. Keinen Sinn jedenfalls macht im Moment das Verbleiben auf dem wenig zentral gelegenen CP in Lissabon, den wir auf unserer Weiterreise am Vorabend bei strömendem Regen notgedrungen angefahren haben. Im dichten Abendverkehr mit reichlich Regengrau und Sturzbächen vom Himmel war einfach nichts zu finden am eigentlich angepeilten Ufer des Tejo. Solche Situationen kosten Nerven, gewaltig. Daher war Erstmal-Unterkommen von enormer Wichtigkeit. Aber heute lacht die Sonne, die Wetterprognose ist gut, und Wim geht glücklicherweise mit mir konform, aufzupacken und zentrumsnaher einen SP zu suchen.
Die oft beschriebenen Möglichkeiten am Torre Belem, einem Weltkulturerbe, gibt es leider nicht mehr, aber kurz dahinter werden wir auf einem PP am Fähranleger fündig. Ein paar Womos stehen schon hier, die Lücke ist eng, aber passt, zwei nette Portugiesen weisen uns ein. So steht der sehnsüchtig erwarteten Besichtigungstour durch Lissabon nichts mehr im Weg. Wir machen alles dicht, riegeln vorschriftsmäßig ab. Auf solchen PP in Stadtlagen ist Vorsicht geboten, egal in welchem Land, obwohl die beiden portugiesischen Mitcamper signalisieren, alles im Blick zu haben, wir könnten unbesorgt sein. Na ja, ihr Wort in Gottes Ohr. Wir radeln Richtung Zentrum. Es geht ganz toll immer am Flussufer entlang über eine Promenade auf dem breiten Kai ca. 6 km. Man kann kaum den Blick abwenden von diesem gewaltigen Strom, der unweit in den Atlantik flutet, dem Tejo, dem betörenden Fluss, der Seele der Stadt Lissabon, dessen Namen die Portugiesen »Teischu« aussprechen, mit einem lang gezogenen ganz weichen »sch« mit so viel inniger Zuneigung, einer Liebeserklärung.
Es ist mittlerweile wieder sehr angesagt, am Ufer des Flusses zu wohnen und zu leben. Es gab Zeiten, da war das sehr viel anders. Als nämlich damals 1755 ein von See- und Erdbeben ausgelöster Tsunami, die größte Naturkatastrophe der westlichen Welt in der Neuzeit, alles verwüstete und in Schutt und Schlamm versinken und an die 60.000 Menschen sterben ließ, suchte niemand mehr die Nähe zum Fluss. Man sagt, selbst der König habe nur noch hoch oben in Zeltlagern gelebt aus Furcht, gefangen zu sein in einem Haus aus Stein. Gedanken daran lassen sich beim Radeln sehr gut vertiefen zum leisen, immerwährenden Singen des Windes in der Konstruktion der über den Tejo führenden mächtigen Hängebrücke des 25. April, an deren Ende die Statue Cristo Rei am anderen Flussufer mit ausgebreiteten Armen entschlossen scheint, alles Unheil abzuwenden.
Die Sonne strahlt warm im Wechsel mit aushaltbaren Gewitterschauern aus schwarzen Wolken. Ein Guss erwischt uns aber fast, wir können uns gerade noch unterstellen an einer der vielen Speicher- und Lagerhallen. Früher roch es hier gewiss nach Fisch und Olivenöl, wimmelte von arbeitsamen Menschen, und die Pier war gefüllt mit Booten und Lastkränen. Froh und entspannt mit einem perfekt trabenden Bazou am Rad genießen wir die schöne Tour. Am alten Pier am Cais das Colunas, hinter dem der säulengerahmte riesige Platz mit Reiterstatue und dahinter die Alfama, die Altstadt Lissabons, liegen, wird Wim mehrfach angequatscht, man bietet ihm Haschisch an, na klasse! Ich könnte mich totlachen. Gut, er ist Holländer, aber wirkt er denn so ungechillt, dass man annehmen könnte, er müsse nachladen. Da wir hier ohnehin noch nicht in die Häuserschluchten abschwenken, sondern eher etwas weiter direkt in die Altstadtgassen eintauchen wollen, genehmigen wir uns erst mal ein Becherchen Kirschlikör vom Handkarren-Büdchen, setzen uns am Flussufer auf eine Mauer und genießen. Auf einem Stückchen Sandstrand lebt Bazou seine 5-Minuten-Sause aus, während seltsame Kleinstvehikel zwischen knallbunten Sightseeing-Bussen herum schwirren und die vielen leuchtenden Fassaden der Häuser ein wunderschönes Bild abgeben.
Womo-Schlüssel futsch …
Wim sucht plötzlich, wohl einer inneren Eingebung folgend, den Womo-Schlüssel. Erst Oberkörper abklopfen, dann in Hosentaschen kramen, wieder abtasten, und wieder kramen, schwitzen, Fahrradkörbchen stülpen, schwitzen, Haare raufen, fluchen, Jacke ausziehen, rütteln, schütteln, mehr schwitzen, Innenfutter links drehen, zerren, blass werden, mehr fluchen, leichenblass werden, mit einsetzender Schnappatmung, gerade noch ausreichend für Extrem-Fluchen. Aber nichts hilft, es bleibt dabei: kein Schlüssel zu finden! Ich bin sprachlos und fassungslos, ich könnte glatt umfallen mit Herzstillstand. Es gibt so Momente im Leben, da zählt nur: »Einfach mal die Schnauze halten.« Klingt böse, ja ordinär, aber es ist – und auch im Nachhinein betrachtet – der Situation angemessen. Jedes Wort von mir wäre kontraproduktiv. Und wortlos kehrt marsch, zack zack, radeln wir sofort zurück, die ganze lange Strecke wie gepeinigt, als wäre der Teufel hinter uns her. Bazou tut mir so leid, der Arme, ist wirklich weit für ihn, eine Strapaze, aber er muss mit durch. Er gehört schließlich zur Gattung südafrikanischer Laufhunde, selbst wenn er das bisher so genau nicht wusste.
Ich vermeide jeglichen »Was-wäre-wenn«-Gedanken, neige ohnehin nicht zum Drama, bleibe fokussiert auf positivem Denken. Klingt echt gut, gelingt aber nicht. Ich hätte die Christus-Statue vom Sockel schreien können. Und wie es in Wim aussieht? »Frag nicht«, sagt er später, viel später. Nach der Schockstarre, die sich aber nur im Oberkörper abspielt, da die Beine ja beim Radfahren funktionieren müssen, stellt sich maßlose Enttäuschung in mir ein. Schwermütig und sehnsüchtig mit verklärendem Sehnen betrauere ich diese mistige Situation und die geplatzte Illusion, auf Lissabon zuzuradeln in dieser wunderschönen Atmosphäre, Frühling in der Luft und im Herzen, begleitet vom leicht wehmütigen Singen der beeindruckend schönen Brückenkonstruktion über den Fluss … ach ja … und jetzt das: Schlüssel futsch! Ich kann es wohl wieder mal abheften unter: »Wenn du meinst, es fehlt dir nichts, dann kotzt dir der Hund auf die Füße«. Oder zum Land passend: »Fado und Saudade auf einen Schlag«! Nehmen Sie reichlich, darfs ein Scheibchen mehr sein? Endlich am PP angelangt, kommt ein Paar recht zielstrebig auf uns zu, irgendwie strahlen sie wie Sonnen im Gegensatz zu unserem gewittrigen Ausdruck im aschfahlen Gesicht oder anstrengungsbedingt hochrotem Ballongesicht. Das österreichische Strahle-Paar parkt mit seinem Womo direkt neben uns und war gerade im Begriff, uns einen Zettel ans Womo zu kleben. Denn: Sie haben doch tatsächlich unseren Schlüssel beim Einparken gesehen und vom Schloss der Heckgarage abgezogen. Von der Heckgarage! Den kompletten Schlüsselbund! Unfassbar!
Übrigens: Von unserer rasanten, überstürzten und wortlosen Rückfahrt gibt es keine Fotos. Die Luft war einfach zu dick. Nicht zu schaffen für ein Kameraobjektiv. Verständlich. Da sich die räumliche Enge im Innenraum des Womos ungünstig auf die Beziehungslage auswirken könnte, bevorzugen wir unverfänglichen Zeitvertreib und glotzen in der Gegend herum, essen etwas Süßes vom Kiosk auf dem PP und hängen still in den Sesseln dieser Außengastronomie als ein Paar, das es schwer miteinander hat, jedenfalls in diesen Stunden. Und dies alles, diese verpestete Stimmung, vor unserem lang ersehnten Fado-Abend, den wir für heute Abend geplant und in einem Fado-Keller reserviert haben. Ach du lieber Herr Gesangsverein. Schlussendlich zeigen wir als Paar doch noch rechtzeitig vor dem abendlichen Ausgehen Stärke, Einsicht und Einlenken, was hilft es, zum Schaden weiteren Schaden anzurichten? Nichts! Während sich ein Regenbogen über Lissabon spannt, lassen wir Bazou allein im Womo, nehmen gegen 21 Uhr ein Taxi, das uns zu einem der als sehr untouristisch beschriebenen Lokale in der Alfama bringt. Das Taxi ist zwar recht günstig, saust dafür aber wie wahnsinnig. Das Lokal ist schon proppenvoll, wir bekommen aber noch einen Tisch. Wir bestellen Sardinen und Muscheln. Alles ganz passabel.
Und dann beginnt die Musik. Zwei Männer spielen Gitarre, es singen eine junge, eine ältere Frau und ein Mann. Es sind wehmutsvolle und auch heitere Lieder. Eindeutig gefallen mir Erstere besser. Die Gäste, fast ausschließlich Portugiesen, singen stellenweise begeistert mit, obwohl ich las, dass während einer Fado-Darbietung nicht gesprochen werden darf, nun gut, mitsingen zählt wohl nicht dazu. Sie freuen sich jedenfalls, amüsieren sich und feiern ausgelassen, muss also gut sein. Wir verstehen zwar nichts, atmosphärisch gefällt es uns aber sehr gut. Der Fado macht jedenfalls viel Lust auf mehr. Wir werden ihm sicher an weniger touristischer Stelle noch besser auf den Zahn fühlen und lieben lernen. Bazou jedenfalls ist still, als wir zum Womo zurückkommen, hat es sich in den Betten gemütlich gemacht. Hundeauslauf stand ja heute genügend auf dem Programm. Und morgen endlich »Lissabon 2.0« – unbedingtes Muss. Bei unserer Abreise tags darauf schmunzele ich immer noch über unser (Schlüssel)Glück im Unglück, als wir über das Wasser des Tejo rauschen und das wunderbare Lisboa über die elegant geschwungene Ponte Vasco da Gama, mit 17 Kilometern die längste Brücke Europas, verlassen.
Freie Wildbahn war einmal
In Dauerschleife und in höchsten Tönen könnte man auf unserer Route das malerische mittelalterliche Städtchen Óbidos, das nachdenklich stimmende Heiligtum von Fatima und die eigentlich unbeschreiblich schöne Natur am Atlantik, die wilde imposante und von Monsterwellen umtoste Küste in der Gegend Nazaré, Peniche und das Cabo da Roca, das felsige, mit zerzausten Azaleenbüschen überzogene Cabo Sardão und den urgewaltigen, von Fels gerahmten Praia do Carvalhal rühmen. In allerhöchsten Tönen darf man dann getrost fortfahren mit dem oft wettergebeutelten südwestlichsten Zipfel Europas am Cabo de São Vicente und selbstverständlich der Algarve, und zwar von vorne bis hinten. Jeder Blick ist ein Geschenk.
Aber auch für viele andere Mitmenschen, denn so einsam und frei es im nördlichen Teil Portugals ist, so knubbelig voll wird es in den südlicheren Regionen, das Urwüchsige weicht dem Gestylten, das Ursprüngliche dem Touristischen – völlig wertfrei betrachtet. Verständlich ist allerdings, dass gerade die Algarve mit ihrem ganz besonderen Licht und den unverwechselbaren Reizen die Massen anzieht. Wer will sie nicht einmal erleben, alles aufsaugen bis zum letzten Tropfen, sich satt trinken an dieser außergewöhnlichen Schönheit und genussvoll genießen wie ein Gläschen vom vortrefflichen Süßwein, dem Vinho do Porto, womit man dieses Land verbindet. Seiner besonderen Aromatik können wir jedenfalls nur schwer widerstehen, halten das aber auch für absolut unnötig. Flüssigkeit ist schließlich sehr wichtig. Den Schnitt zwischen fast vogelfreiem Herumgondeln im Norden des Landes und den reglementierten einschränkenden Bedingungen im Süden merken wir rasch. Sie werden von Jahr zu Jahr auch ausgeweitet, küstennahe Womo-Freiheit wie vor Jahren lässt sich kaum noch finden, jedenfalls nicht mehr legal. An verfallenen Fortezzas in Klippenlage hoch über dem Meer campierenden »wilden Horden« jeden Alters und Geschlechts und jeder Nationalität mit abenteuerlichen Vehikeln, die einem deutschen TÜV-Ingenieur sicher die Tränen in die Augen, den Schweiß auf die Stirn getrieben und zum Verweigern der Plakette geführt hätten, wird man heute eher seltener begegnen. Auch die rund um die abgeschiedene Praia Boca do Rio mit ihren unzähligen kleinen weißen Narzissen in den sandigen Wiesen eingenisteten Womo-Besatzungen in ihren klapprigen Bussen wird man vertrieben haben. Eine Antwort des Landes auf die stetig steigende Flut an wildcampingwütigen Womo-Touristen.
Postkarten lügen nicht
An Feldern und Schafherden vorbei gehts für uns weiter nach Lagos zum PP an der Ponta da Piedade zum Gucken der Reiseprospekt-Klippen, dem Inbegriff der Algarve. Hier findet die mobile Freiheit nun wirklich ihr jähes Ende: Für ein Wohnmobil ist nämlich selbst das Parken verboten. Wir stellen es trotzdem schuldbewusst auf einem kleinen leeren PP ab, wo auch sonst, wir wollen nur sehr kurz bleiben. Kleiner Rundgang folgt vor heftigem Platzregen, also noch schneller als gedacht zurück ins Mobil. Bei Kaffee zu Törtchen mit Meerblick beobachten wir einen Mann, der uns freundlich zuwinkt und mehrere wilde Katzen, die ihn freudig erwarten, füttert. Bazou verfolgt das Geschehen hinter der Scheibe sehr interessiert. Eine Möwe bleibt respektvoll auf Abstand, die Katzen taxieren sie abfällig und verhalten sich total souverän und obercool. Da hat gewiss in der Vergangenheit schon das ein oder andere klarstellende »Gespräch« stattgefunden, denn die Möwe testet kaum Grenzen aus. Dann gondeln wir über eine Seitenstraße durch ein Appartement/Residenzia-Viertel zur Praia de Nossa Senhora da Rocha. Alles in allem wirkt die Gegend zugebaut, touristisch, mondän, das Ursprüngliche verliert sich.
Ein PP ohne Verbotsschild an der hohen Steilküste mit kleiner Kapelle tut sich auf. Ein paar Womos stehen hier, scheinbar unbehelligt, wie ein Nachfragen ergibt. Also wir nun auch. In wunderbarer Lage am Rand der Bilderbuch-Algarve-Küste genießen wir den vollen Meerblick. An Lieblichkeit ist dieser Anblick mit dem schneeweißen Kapellchen vor dem strahlenden Blau des Himmels und des Meeres kaum zu überbieten, ein Ort, der einem ein warmes Gefühl beschert, etwas Unendliches vor Augen, in dem ein behütendes Kleinod zu schweben scheint. Was will man mehr. Hier bleiben wir die Nacht über. Stühle raus, warme Sonne, atemberaubende Aussicht genießen, Strandspaziergang, Riesenmuscheln sammeln. Wunderbar. Selbst die abends gebratenen schnöden Würstchen mit Kartoffeln und Tomatensalat schaffen es nicht, am Entzücken über das Auffinden dieses beseligenden Plätzchens zu rütteln. Extreme Aufruhr lostreten und das Idyll stören könnte nur Bazou. Denn ihn müssen wir sehr im Auge behalten, unzählige streunende Katzen schleichen herum, und Bazou würde wegen einer Katze über die Klippenkante rennen. Da kennt der nix. Nicht auszumalen.
Kein Tiger im Tank, aber …
Die Weiterfahrt führt uns von der Küste weg Richtung Moncarapacho zu einem CP. Für die kurze Strecke von 30 km gibt das Navi über eine Stunde Fahrzeit an, beachtlich, wir staunen, zweifeln, aber die Straßen werden wirklich immer unwegsamer. Irgendwo in tiefster Wildnis finden wir den Platz im Ponterosa-Ranch-Style. Wir werden auf eine vermatschte, aber mittlerweile trockene Wiese mit tiefen Spurrillen gelotst. Hier hatten schon etliche Probleme, vermutlich Fronttriebler, und strampelten im knöchelhohen Schlamm um ihr Leben. Irgendwo in der Nähe muss sich eine Autowaschanlage eine goldene Nase verdienen.
Wifi funktioniere, allerdings Strom gäbe es nicht. Es seien zu viele Womos da, unterrichtet uns der Betreiber, ein Mann mit Cowboy-Hut, dessen Hüftstellung und untere Extremitäten vermuten lassen, er habe die iberische Halbinsel nicht nur einmal auf einem Pferd umrundet. Mal sehen, ob wir hier länger bleiben. Da es für ein Wim erfreuendes Grillen – oder hier kann man es stilechter getrost »Barbecue« nennen – schon etwas spät ist, serviert er köstliche Muscheln und reichlich Wein, damit sie auch schön weit rausschwimmen können. Artgerechte Haltung ist wichtig, immer im Blick. Dazu dann die Fado-CD, die wir auf dem Markt in Espinho kaufen konnten, die uns, auch wenn wir die Texte der Weis- und Wahrheiten nicht verstehen, dennoch restlos begeistert. Ach ja, manchmal hat man ja für nix Zeit – und nimmt sie sich nicht mal. Aber heute.
So beseelt rappeln wir uns irgendwann zum Abendspaziergang auf. Es ist keine Frage, mit Bazou leinenlos in der menschenleeren Gegend zwischen Büschen, Wiesen, Steinen und Olivenbäumen zu lustwandeln. Laue Sommernacht im Frühling, leicht einen im Tee, Entspannung pur. Irgendwie wünsche ich, so im Nachhinein, das ganze nun Folgende sei eine Legende und nie geschehen und der wahnsinnige Schreck sei uns erspart geblieben, wobei eigentlich alles auch irgendwie in diese seltsame Atmosphäre rund um diesen CP passt. Schon leicht dämmrig fällt jedenfalls die Nacht zwischen das Geäst der alten Oliven, legt sich still auf die gelben Blüten im Gras, die längst geschlossen sind. Wir erzählen, haben Spaß mit Bazou, freuen uns des Lebens. Hinter einem dichteren Gebüsch verschwindet unser Hündchen, scheinbar ist Verdauung angesagt. Leicht albern hecheln Wim und ich die Nachbarschaft auf dem CP durch. Lästern ist doch manchmal so richtig toll, und hier hört uns keiner. Stattdessen hören wir aber etwas und stellen fest, dass Bazou längst wieder hätte bei uns sein müssen. Rufen und locken hilft nichts, Bazou kommt nicht, bleibt verschwunden. Wir folgen dem Geräusch, diesem seltsamen Schnarren, das wir überhaupt nicht zuordnen können – oder besser: nicht zuzuordnen wagen. Zunächst herrscht wieder Stille, kein Rascheln, nichts. Wim ruft Bazou. Stille. Pfeift. Pause. Stille. Ich locke. Nichts. Stille. Und plötzlich zerfetzt ein irrsinniges Fauchen und Brüllen die Abendstille. Mit einem riesigen Satz taucht Bazou auf, klemmt sich total »bei Fuß«, hellwach, baut sich auf, extrem konzentriert, wittert in die Luft mit weit vorgestrecktem Hals, breit aufgestellten Hinterläufen und aufgestelltem Rückenkamm.
Was geht denn hier ab? Träum ich?
Erzähl mal einem, hier gibt es Löwen. Ja, erzähl das mal einem. Der liefert Dich ein. Und bei der blitzartig und gnadenlos vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein katapultierten Gewissheit, dass das Gebrüll tatsächlich nur Löwen zugeordnet werden kann, ergreift uns echt die nackte Panik, die scheinbar, vom Löwen gewittert, diesen ermuntert, sein komplettes Repertoire an Grunzen und Schnauben und Röhren und Kratzen abzuspulen. Gnade Gott! Wim, das Bübchen und ich nehmen die Beine unter die Arme, aber so was von blitzartig. In amerikanischen Shows bleiben nur Siegfrieds und Roys beinhart bei derlei Sachen, in Filmen flüchten sich Menschen in Bäume in solchen Situationen. Auch weil das Olivengeäst nicht allzu hoch hängt, wäre jetzt für uns das Erklimmen eine fatale Fehlentscheidung, mal abgesehen davon, dass zumindest ich – im Gegensatz zu Wim mit seinen langen elastischen Beinen – es eher weniger flott erreichen könnte.
Schemenhaft erkennen unsere aufgerissenen Augen beim rennenden Durchstolpern des Geländes noch die Umrisse eines riesigen, gelben, schwankenden Anhängers, der fast zugewachsen im Gebüsch steht. Er scheint verschlossen, aber seinen Inhalt wirklich zu verbergen, gelingt ihm nicht. Der, dieser Inhalt, tobt und scharrt nämlich wie von Sinnen. Irgendwie erreichen wir an diesem Abend den geschützten Raum unseres Womos, irgendwie fallen wir auch an diesem Abend in die Betten und in Schlaf, aber irgendwie ist auch eine weitere Weinflasche offenbar im Zuge einer sofort eingeleiteten Schocktherapie leer, die Augen am Morgen dick und die Beine immer noch leicht schloddrig. Kopf und Geist hingegen sind sofort wieder in alter Frische parat, da richtig irreal diese wahnsinnige Geräuschkulisse vom Abend vorher bereits jetzt am Morgen wieder zugeschaltet ist und die Löwen unüberhörbar auf Frühstück bestehen. Man könnte annehmen, es gelänge ihnen nur über Gefauche, ihre unbändige Kraft zu drosseln. Unser Afrikanischer Löwenhund jedenfalls horcht nur mal kurz auf, und das wars auch schon zum Thema Großkatzen.
Beim leicht traumatisierten Verlassen des CP erfahren wir, dass hier im Hintergrund ein Zirkus im Winterlager haust und die in den Käfigen auf den Anhängern untergebrachten Löwen – es sind mehrere – unter widrigsten Umständen dahinvegetieren. Hören und sagen – in diesem Fall eine ganz andere Bedeutung als »Hörensagen«. Nur vom Hörensagen wird diese Geschichte nämlich nicht erzählt, nein nein … die Schrammen und Kratzer an meinen Beinen halten sich lange, gut, niederer struppiger Bewuchs war ursächlich, keine Großkatzenpranken.
Nix wie weg hier …
Offenes Gelände muss aber jetzt nach dieser Begegnung der dritten Art her, buschlose Gegend, eher öde als aufregend. Da ist unser Bedarf im Augenblick gedeckt. Zweierlei Koordinaten schicken uns durch verwinkelte Gassen und Orangenhaine, über fast unwegsame Feldwege, um Ecken und Kanten, mit und ohne Gehöfte. So verlassen wir die »Höhle der Löwen« und durchfahren eine wohltuend schöne mediterrane Gegend mit steinigen Äckern, Apfelsinenbäumen und leuchtend gelben Blümchenteppichen in Richtung Küste.
Ich hatte eine Farm in Afrika …
Im unaufgeregten Tavira gönnen wir uns nach einer Runde an den Salinen vorbei, wo Flamingos zu bewundern sind, auf einem sonnenbeschienenen Platz ganz traditionsbewusst einen köstlichen Salada de Atum (Oktopus-/Thunfischsalat). Ein älterer, sehr fein und elegant im cremefarbenen Doppelreiher gekleideter Herr mit seidigem Tuch um den Hals, spricht uns auf Englisch auf Bazou an und nähert sich ihm ohne eine Spur von Ängstlichkeit. Er habe viele Jahre seines Lebens im ehemaligen Rhodesien gelebt, Teile seiner Familie heute noch. Er würde jetzt im fortgeschrittenen Alter eher die Vorzüge der Algarve schätzen. Sein Blick verliert etwas an Weite bei dieser Schilderung, und ein klein wenig Wehmut schwingt unüberhörbar mit. Die Unterhaltung lenkt er immer wieder auf Hunde, auf Bazou. Und schließlich erzählt er mit Leuchten in seinen Augen, dass er Rhodesian Ridgebacks auf seiner Farm gehabt habe, sie seien ihm so ans Herz gewachsen, seien ein Teil von ihm und seiner Familie gewesen, er liebe ihren festen Charakter und die umwerfende Schönheit. Er lässt sich berichten, wie wir so zurechtkommen, wie es uns auf Reisen mit Hund ergeht, hat sichtlich große Freude daran. Nur ab dem Moment, als er sich vor Bazou hockt und uns fast verschämt berichtet, er sei selber begeisterter Züchter und Richter gewesen, unterdessen Bazou mit fachmännischen Handgriffen prüft, an ihm entlang streicht, ihn befühlt, anerkennend nickend Kopf, Zähne und Ohren begutachtet, da erlischt das Strahlen und ein Tränenschleier legt sich in seine Augen, ein Moment, der uns allen sehr nahe geht – unvergesslich. Bazou hingegen lässt alles ziemlich gelangweilt über sich ergehen, und wir sind froh, dass er den feinen Herrn im Überschwang nicht anspringt. Nicht auszudenken, wäre der edle Zwirn seines Jacketts beschmutzt worden. Wobei ich glaube, es wäre dem Herrn völlig egal gewesen, Hundemenschen sehen über so etwas hinweg. Und wir sehen hinweg über unseren großen Drang, ihn nach der Gestaltung seines Alltags mit seinen Hunden in Rhodesien zu befragen, halten unser Interesse im Zaum und stellen keine Fragen. Die Situation ist aufgewühlt genug. Und der elegante Mann »flüchtet« sich auch wieder in sehr höfliche Distanz. Seine Augen verraten anderes.
Alles hat seine Zeit
Nach all den heimeligen, entspannend-bewegenden Eindrücken des Bummels durch das weiße Örtchen Tavira schlagen wir unmittelbar am Strand in Manta Rota unsere Zelte auf, um tags darauf radelnd die Gegend zu erkunden. Heute wird mal nichts erlebt, Erlebnisse jeder Art werden mal anderen überlassen. Heute stehen nur »Gut-gehen-Lassen« und »Naturgenuss« auf dem Programm. Meer zur Rechten, Himmelblau über uns, keine Menschen, ein freudig freilaufender Bazou, so gehts per Rad in den Nachbarort. Dort setzen wir uns in ein gut besuchtes Straßencafé und genießen die warme Sonne und den ersten Sangria des Jahres. Allein schon das Farbspiel in der gläsernen Karaffe zwischen dümpelnden Orangen und dem Rot des Weins im Sonnenschein ist erlebenswert, das darf man sich keineswegs entgehen lassen, auch wenn es am späten Vormittag eigentlich noch etwas früh dafür ist.
Holländer und Engländer, die Bazou großzügig Streicheleinheiten zukommen lassen, bevor er sich am Tisch auf den Boden vor uns wirft, sind die Gäste, alle älteren Semesters, alles wohl Überwinterer hier an der göttlichen Algarve. Ein stattlicher, gebräunter Holländer erzählt lautstark und gestenreich am Nebentisch. Er zelebriert, körperlich komplett auseinander gefaltet, und hat viel Freude an dem, was er tut und wie er es tut, wohlwissend, kaum die gewünschte Wirkung zu verfehlen. Die Damenwelt um ihn herum, äußerst gepflegt und in den späten besten Jahren, lauscht fast andächtig und sendet anerkennende Augenaufschläge in seine Richtung, was den sympathischen »Hahn im Korb« mit markantem Goldarmband zu Hochform auflaufen lässt. Interessant zu beobachten, wie verschieden die »Hühnchen« derweil versuchen, ihn ihrerseits in ihren Bann zu ziehen. Rekeln die einen sich zurückgelehnt lasziv im Plastikstuhl im Sonnenschein, streichen sich eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht, lassen andere ihren tadellos aufgetragenen knalligen Nagellack durch gekonntes Fingerspiel auf ihren Lippen in der Sonne blitzen oder beugen sich interessiert weit vor, legen ihre durchaus ansehnlichen Brüste auf den kleinen wackeligen Bistrotisch, dass dieser lustvoll mit den Augen rollen würde, wenn er denn welche hätte. Ob alle Anwesenden sich untereinander verstehen mit ihren verschiedenen Sprachen, spielt absolut keine Rolle. Irgendwie irgendwo gibt es Verstehen und Verständigung, die fluppt.
Man ist alt genug zu spüren, dass Tage reif und gekommen sind. Man hat nichts zu verlieren, wenn nicht jetzt, wann dann? Und schon schnalzt der vermutlich schwerreiche Holländer mit den Fingern, lässt sich mit gönnerhaftem Lächeln die nächste Karaffe Sangria vom parat stehenden, freundlichen Kellner kredenzen und gießt den Damen und sich einen ein. Wenn da mal später nicht noch der ein oder andere Eventual-Golfer einlocht, dann will ich nicht mehr Eva heißen. Jedenfalls brennt wundervoll die Luft, und die Damen versuchen, sich durch verheißungsvolles Kichern runterzukühlen. Irgendwann angelt jedoch Mr. Bombastic nach den Griffen eines völlig unauffällig neben ihm stehenden Köfferchens. Er hebt es auf seinen Schoß, und tatsächlich schaut eine winzige Hundenase heraus. Er küsst sie, die Damen staunen, werden galant verabschiedet, sie lächeln leicht verkniffen und müssen ihren »Hahn« ziehen lassen … denn jetzt ist Mittagsschläfchenzeit – für ihn und sein Chihuahua-Kerlchen, mehr braucht man(n) nicht.
Zu Ende gedacht
Ein dahin plätschernder Tag im Summer-sunny-sunshine-Feeling mit viel Amüsierendem neigt sich dem Ende zu, wird aber noch mal psychisch extrem fordernd, als uns unser mit winzigem Hund im winzigen Womo allein reisender Nachbar vom Niederrhein, Anfang 50, nachts auf dem Weg vom grandios fesselnden Fado-Abend in einem kleinen Lokal zurück zum SP von seiner schlimmen Erkrankung berichtet. Er ist sterbenskrank, sein Sohn wird sein treues Hündchen zu sich nehmen, seine Mietwohnung hat er aufgegeben und unternimmt die erste und gleichzeitig letzte Reise auf Erden mit einem Womo. Ein sprachlos machendes Schicksal.
Vor dem Hintergrund des an diesem Abend Erlebten wird der Schmerz der Menschen über Wohl und Wehe, der sich im Fado ein Ventil sucht und darin musikalisch aufgearbeitet wird, überdeutlich. Sämtliche Schattierungen der menschlichen Seele von unglücklicher Liebe und Heimweh, dem Wunsch nach besseren Zeiten und der großen Sehnsucht danach, aber auch Missstände im sozialen Gefüge, all das zeigt der Fado als eigenständiges, authentisches Stück Portugal auf. Einzigartig melancholisch, Herz erwärmend und zu Tränen rührend, spiegeln Musik und Gesang Land und Leute wieder. Der Fado hilft, das Land zu verstehen, er packt … greift zu … lässt nicht mehr los.
Auf ein Wiedersehen, Portugal. Vielleicht sogar bald, wenn wir Glück haben. Denn: »Wer Pech hat, der bricht sich im Bett die Beine«, sagt man in Portugal. 🐾
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